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Editorial, von Mélissa Llorens mit Jean Zermatten (IDE)

Schweiz: Verpflichtung gegenüber Flüchtlingskinder nicht wahrgenommen

"Auf Grund einer restriktiven Migrantenpolitik nimmt die Schweiz ihre Verpflichtung gegenüber schutzbedürftigen Flüchtlingskinder nicht wahr." So lautet die Feststellung nach dem internationalen Tag der Kinderrechte des 8. Observationsreports der Beobachtungsstelle für Asyl-und Ausländerrecht der Region Westschweiz (ODAE).

Laut Jean Zermatten, der an der Pressekonferenz, die zur Einleitung des Berichtes organisiert wurde, teilgenommen hat, «erkennt man eine allgemeine Tendenz zur Kriminalisierung der Flüchtlinge, sei es Mann, Frau oder Kind». Die für Kinder geschaffene UNO-Konvention (KRK), obschon von der Schweiz ratifiziert, sieht trotzdem spezifische Bestimmungen für gefährdete Kinder mit Flüchtlingsstatus vor. Sie umfasst auch allgemeine Grundsätze, wie vor allem das Prinzip des Wohlergehens des Kindes (Artikel 3). Dieses verlangt, dass der Staat immer die bestmögliche Lösung für die Entwicklung und das Wohl des Kindes wählt. Angesichts der von der ODAE bekannt gegebenen Fälle, «haben wir den Eindruck, dass die Interessen der Migrationspolitik systematisch über die Interessen der Kinder gestellt werden» hält Jean Zermatten fest.

Bei der Pressekonferenz hat Jean Zermatten die Kritik erwähnt, die vom UNO-Komitee der Kinderrechte in einer seiner Analysen von 2015 formulierter worden war. Das Komitee zeigte sich von der Tatsache beunruhigt, dass das Asylverfahren für minderjährige, unbegleitete Jugendliche nicht immer von der selbstlosen Sorge um das Wohlergehen der Kinder getrieben werde und das Recht zu Familienzusammenführung für Inhaber einer provisorischen Aufenthaltsbewilligung (Genehmigung F) zu stark eigeschränkt sei. Das Komitee hat ferner die großen Unterschiede bei der Unterbringung von Minderjährigen festgehalten. Manche Kantone greifen beispielsweise auf Zivilschutzräume als Unterkünfte zurück.

Der Experte hat ebenfalls die Problematik des Freiheitsentzuges der Flüchtlingskinder angesprochen. Er erwähnte, dass 2015 etwa 142 Kinder zwischen 15 und 18 Jahren nur auf Grund ihres Migrantenstatus in der Schweiz inhaftiert worden waren. Die von verschiedenen Organisationen angeprangerte Situation an der Tessiner Grenze wurde ebenfalls aufgegriffen: Zurückweisung von Jugendlichen, Widerstand beim Stellen eines Asylgesuches und der Möglichkeit des Familienzusammenschlusses, Informationsmangel, verheerende Lebensbedingungen im Lager von Como.

Der Fall «Samira», der im Bericht der ODAE beschrieben wird, illustriert die fehlende Achtung der Behörden in Bezug auf die Interessen des Kindes: Es handelt sich dabei um den Ausweisungsbeschluss in infolge eines Asylgesuches. Dieses schwerbehinderte Kind, das eine besondere Behandlung benötigte, hatte nach der Flucht aus Aserbaidschan für sich, seine Schwester und seine Mutter den Schutz der Schweiz beantragt, Der Asylantrag wurde abgelehnt. Das Staatssekretariat für Migrationsfragen (SSM) hatte entschieden, dass die Ausweisung vertretbar sei: Es versicherte, dass die nötige Behandlung in Aserbaidschan existiere (ohne sich dessen Vorhandensein zu vergewissern) und ohne die konträre Meinung der Ärzte zu berücksichtigen. Am Ende ordnete das Verwaltungsgericht (BVGer) die Bewilligung einer provisorischen Aufnahme an, nachdem es in Erfahrung gebracht hatte, dass das SSM zusätzliche Untersuchungen durchgeführt und diese nicht den Akten beigelegt hatte. Diese Untersuchungen wiesen ausdrücklich die fehlende Möglichkeit einer medizinischen Behandlung des Mädchens in Aserbaidschan vor.

Wie soll man die Verbissenheit verstehen, mit der das SSM Samira, die durch ihren Kinderstatus und ihren schlechten Gesundheitszustand doppelt gefährdet war, ausweisen wollte? Hinsichtlich der Veröffentlichung des Berichtes der ODAE hat das Staatssekretariat für Migrationsfragen der Presse versichert, Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheitsvorkehrungen bei der Betreuung der minderjährigen, unbegleiteten Antragssteller zu berichtigen. Die ODAE der Westschweiz wird die Möglichkeit ergreifen, über die Entwicklung des Dossiers Bericht zu erstatten.

Illustrationsbild: jmettraux flickr/cc

NB: der Inhalt dieses Editorials gibt nicht unbedingt die Meinung der Direktion und des Teams des IDE wieder.